(Prosa aus einfachen Sätzen)
Der Winter war wieder viel zu warm. Im Januar beobachteten wir Wespen. Manche sprachen schon vom Ende einer Jahreszeit. Alles verschwindet. Nur das Loch im Himmel vergrößert sich. Und im Frühling gab es viel zu viele Insekten. Im Sommer war es abwechselnd zu warm und zu nass. Am Regen interessiert wieder mehr der Säuregehalt. Die Becquerel der vergangenen Jahre sind schon wieder vergessen.
Früher stritten wir noch über Widerstand. Über strukturelle Gewalt und dann doch nicht geworfene Steine. Heute interessiert uns das Wachsen der Gurken. Die Bohnen könnten noch etwas Regen gebrauchen. Die Zwiebeln müssten es trockener haben. Ernsthaft diskutieren wir die Vorteile des Mulchens. Wir schwören auf Rindenmulch, wir nehmen Stroh, wir versuchen es mit abgemähtem Gras. Wenn das alles so weitergeht, werden wir unseren Tabak selbst anbauen. Wir drehen unsere Zigaretten selbst. Oder wir haben das Rauchen sowieso aufgegeben. Das beste Gras wächst in unzugänglichen, längst aufgegebenen Weinbergecken. Und auch den Schnaps könnte man selber brennen. So bauen wir Barrikaden in den eigenen Gärten und führen Rückzugsgefechte gegen Universitäten und Arbeitsämter. Im Herbst wundern wir uns über den viel zu kurzen Sommer. Und während wir auf den Winter warten, sammeln wir Äpfel auf Streuobstwiesen.
Vielleicht eröffnen wir im nächsten Jahr ein biodynamisches Vollwertrestaurant. Doch dafür fehlt uns das Geld. Und Lotto haben wir noch nie gespielt.
Wir fahren jeden Dienstag zur Therapie. Wir werden Meister im Handauflegen. Wir planen eine psychosomatische Kur, wir stehen auf Enlightment oder werden Gesprächstherapeut. Ansonsten sind wir stark.
Wenn morgen die Welt unterginge, würden wir heute einen Apfelstrudel essen. Heiß mit kaltem Vanilleeis. Auf Demonstrationen sieht man uns nur noch selten. Sitzblockaden sind auf Dauer zu teuer geworden. Seit uns die historischen Kategorien durcheinander geraten sind, halten wir uns an fassbareres. Strikt unterteilen wir die Pflanzen: Chlorfreundlich, chlorfeindlich, stark und schwach zehrend, sonnen- und mondfreundlich. Im Keller stehen Regale voll mit Eingewecktem, auf dem Speicher trocknen die Kräuter. In Vollmondnächten treiben wir nackte Jungfrauen über die Felder. Laterne, Laterne, Sonne, Mond und Sterne….
Der Trend geht zur Selbstversorgung. Morgen essen wir die gute Tiefkühlpizza aus dem Supermarkt. Konsequent verzichten wir auf jegliche Chemie in unserem Garten. Unser Lauch wird mindestens halb so groß wie der unserer Nachbarn. Aber mit unseren Zucchini könnten wir sie totschlagen. Selbst unsere Gartenbücher kaufen wir im linken Buchladen. Auch wenn wir dafür vierzig Kilometer Auto fahren. Unter unseren Dachrinnen stehen große, blaue Tonnen. Uns entkommt kein Tropfen Regenwasser. Im letzten Jahr verunsicherte uns der Asbest in unseren Dachziegeln. Jetzt beschäftigt uns das Amalgam in unseren Zähnen.
Obwohl wir viel lieber Bier trinken, keltern wir Unmengen Apfelsaft. Die Briketts sind gestapelt, das Holz ist gehackt. Wenn wir Zentralheizung haben, stellen wir trotzdem einen Kohleherd auf. Argwöhnisch beobachten wir unseren Heizölverbrauch. Zur Belohnung fahren wir jede Woche in die Sauna. Wir rasieren uns nass und machen elektrisch verstärkte Musik. Einige unserer Pullover sind noch immer handgestrickt. Darunter tragen wir Unterwäsche aus Edelboutiquen.
Wenn wir nicht vegetarisch kochen, versuchen wir uns an der nouvelle cuisine. Wenn es sein muss, sprechen wir perfektes Küchenfranzösich. Selbstverständlich wohnen wir nicht in Hochhäusern. Früher begannen wir jeden zweiten Satz mit irgendwie. Auch sind wir nicht mehr dauernd betroffen. Wir lesen nur noch erotische Romane, in denen die Würde der Frau gewahrt bleibt. Ärsche dürfen wir noch sagen. Titten ist ein verbotenes Wort. Ficken dürfen wir auch nicht mehr sagen. Aber Penetrieren ist uns Männern noch nie über die Lippen gekommen. Das erinnert stark an unsere katholische Kindheit.
Schockieren kann uns nichts mehr. Dass die Politiker korrupt sind, wussten wir schon immer. Überhaupt kann nichts passieren, was wir nicht schon immer gesagt haben. Nur die Wiedervereinigung hat uns überrascht. Tapfer versuchen wir sie zu ignorieren. Den nächsten Urlaub planen wir an der Mecklenburgischen Seenplatte. Nationalbewusst sind wir nur beim Fußball. Sonst sind wir gegen diesen Staat. Trotzdem gehen wir noch wählen. Schon immer das kleinere Übel. Im Moment ist es grün wie unsere selbst gezogenen Salatsetzlinge.
Manchmal spielen wir noch Karten, aber nicht mehr um Geld. Ansonsten warten wir auf den Winter. Wir würden sogar wieder Schlitten fahren. Wir schwärmen für Frischluft und spielen Squash in stickigen Käfigen. Dass niemand Bodybuilding betreibt, ist eher Zufall. Wenn nichts im Fernsehen kommt, gehen wir in die Kneipe. Der Genuss von alkoholfreiem Bier ist Episode geblieben. Währenddessen steigt der Meeresspiegel. Manche träumen von einem Strandhotel in Oberhausen. Kalauernd übergehen wir jede Krise. Alles in allem sind wir perfekte Kleingärtner.
Wir stellen uns vor, dass jeder noch ein zweites Leben hat, in dem er alles anders machen kann. Wir stellen uns vor, dass dieses zweite Leben schon lange angefangen hat.
Wenn wir verreisen, sind wir keine Touristen. Wir fliegen nicht mit Neckermann. Auf Mallorca liegen wir nur ausnahmsweise am Strand.